Das wichtigste Gebet ist das Gebet um die Beharrlichkeit bis zum Ende. Siehe hier


Donnerstag, 12. Juli 2012

Das vollkommene Leben

von Erzabt Dr. Benedikt Baur O.S.B.


Das vollkommene Leben liegt nicht in der Menge von religiösen Übungen, Gebeten, Andachten, in bloß äußeren Werken oder in äußeren Leistungen des Opfer- und Tugendlebens, in schwierigen Werken der Entsagung, der Buße in sich. Es liegt im Inneren. 
Es ist Gesinnung, innere Haltung, vorzüglich die Haltung der vollkommenen Liebe zu Gott, die Erfüllung des großen Gebotes „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit allen deinen Kräften, und den Nächsten wie dich selbst“ (Matth. 22,37). 
Vollkommen sind wir in dem Maß, als wir zur Vereinigung und Verähnlichung mit Gott gelangt sind. Dies aber bewirkt die Liebe: sie ist es, die uns mit Gott vereinigt und Ihm ähnlich machte. „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit Ihm“ (I Kor. 6,17): zwei Flammen, die zusammengehalten werden. Wir sind so weit vollkommen als wir lieben. 
Die Liebe hat jeder, der im Stand der heiligmachenden Gnade ist, d.i. der die Gebote Gottes hält, also keine schwere Sünde tut. Ist er schon vollkommen? 
Nein, vollkommen im eigentlichen Sinne sind wir erst von dem Augenblick an, da die Liebe in uns so kräftig und wirksam ist, dass sie uns über jede oder doch fast jede irgendwie bewusste, vorsätzliche Untreue, Übertretung, lässliche Sünde hinaushebt und davor bewahrt. 
Ja, richtig vollkommen sind wir erst, wo die Liebe zu Gott uns so stark und aufmerksam macht und erhält, dass wir auch die Sünden und Fehler der Übereilung und die Schwachheitssünden nach Möglichkeit meiden, ihre Art und Zahl verringern. Aber das wäre nur die eine Seite des vollkommenen Lebens, die negative Seite. 
In ihrer ganzen Größe und Fülle tritt die Vollkommenheit nach ihrer positiven Seite in Erscheinung. Sie tut alles Gute, d.i. sie tut alles und jedes, was von Gott geboten ist, und das sie nicht unterlassen könnte, ohne zu sündigen, Gott zu beleidigen. Ja, sie geht noch über das von Gott Gebotene, das Pflichtmäßige hinaus und tut, soweit es ihr möglich ist, viel mehr, als was geboten ist und was sie ohne Sünde nicht unterlassen oder anders machen kann. Sie tut nicht bloß das, was gut und recht ist: sie sucht auch das zu tun, was besser ist, was Gott mehr ehrt, was seine Interessen mehr fördert und ihm wohlgefälliger ist. 
Das ist die Liebe auf ihrer Höhe, in ihrer Vollendung: sie schließt nicht bloß alles aus, was Gott missfallen muss, sie schließt auch alles aus, was Gott weniger gefallen müsste, und drängt zu dem, was Gott mehr gefällt, Ihn mehr verherrlicht und ehrt.

aus: Die häufige Beicht, 10. Auflage, Herder, 1954, mit Imprimatur