Du weißt ja, man bindet die Gefangenen an Händen und Füßen, damit sie nicht davonlaufen können. Die Fesseln nun, welche du heute tragen sollst, musst du dir selber anlegen.
Man erzählt von einem frommen Einsiedler aus alter Zeit, dass ihm einmal die Versuchung gekommen, von der Einsamkeit fort und in die Welt zurückzukehren; zur Strafe für diese Gedanken habe er sich an eine Kette schmieden lassen, welche an dem Felsen seiner Höhle befestigt wurde und nachdem das Schloss der Kette gesperrt gewesen, habe er den Schlüssel dazu ins Meer geworfen. So meine ich es nicht, lieber Leser!
Die Ketten, welche du heute tragen sollst, sind nicht von Eisen, sondern von Liebe. Die Liebe zu Jesus soll dich antreiben, deinem freien Willen und deinem Inwendigen und Auswendigen heute keine andere Freiheit und keine andere Bewegung zuzulassen, als welche Jesus dir erlaubt.
Darum frage dich heute bei allem, was du tust: „Gefällt dies dem Herzen Jesu?“ - Und sagt dir eine inwendige Stimme, dass dieser Gedanke oder jenes Gespräch, diese Arbeit oder jene Stellung und Gebärde deines Leibes und anderes dergleichen dem Herrn Jesus nicht gefalle, und dass er an deiner Statt es anders machen würde, dann lass den Gedanken weg und führe das Gespräch nicht weiter und lass das Geschäft fort und nimm Haltung und Gebärden an, wie der Herr Jesus selber sie gehabt hätte.
Es wird freilich die Frau Eigenliebe allerhand dagegen einwenden und ein saures Gesicht dazu machen und brummen; aber mache dir nichts daraus, gib ihr nicht nach, halte sie unter dem Pantoffel und denke dir: „Ich bin Gefangener!“
(Aus: Stillleben im Herzen Jesu, Franz Hattler SJ, Regensburg, Nationale Verlagsanstalt [früher G.J. Manz], 1896, S. 64)